Cyberware und freier Wille – ein Hausregelkonzept für Cyberpunkspiele

Cyberware HumanCyberware entmenschlicht. Diese Aussage findet sich in der einen oder anderen Form in einer ganzen Palette von Dark Future- und Cyberpunkrollenspielen wieder. Mal ist sie Teil eines Kernthemas, mal ist sie einfach nur Szenerie, mal Übertünchung für Spielbalanceüberlegungen.

Unabhängig davon ob Thema, Atmosphäre, oder Balance im Vordergrund stehen, schlägt sich dieser Aspekt auch immer wieder in den Regeln der Spiele nieder. Je nach System wird ein spezieller Wert gesenkt (wie Shadowruns Essenz oder Cyberpunks Menschlichkeit), XP-Abzüge verhängt (d20 Cyberscape), auf Berserkertabellen gewürfelt (TORG), und was der gleichen mehr ist.

Die entweder in den Regelwerken schwarz auf weiß ausgesprochenen oder implizierten Auffassungen davon, was die Entmenschlichung durch Cyberware überhaupt ausmacht – was folglich Menschlichkeit eigentlich ist, hängt oftmals mit an diesen Spieleffekten. Da wird im fantasylastigen Shadowrun die magische Integrität der Person und damit ihre Seele verletzt, die Empathie zu anderen Menschen beeinträchtigt, oder psychische Störungen durch die Entfremdung vom eigenen Körper provoziert.

Ist das wirklich die große, schreckliche, und auch für den Spieler erfahrbare Entmenschlichung?

Vielleicht.

Aber einen möglichen Aspekt der Menschlichkeit, des Menschseins, lassen diese Ansätze außer Acht – oder berücksichtigen ihn doch oft nur in einer letzten, finalen, und per definitionem unspielbaren Konsequenz (nämlich dem Entzug des Charakters und seiner Umwandlung in einen NSC): Den freien Willen.

Entmenschlichung, nicht als Verlust von metaphysischen Qualitäten, Empathie, oder geistiger Gesundheit, sondern als Verlust von Entscheidungsfreiheit, wie soll das gehen, wie soll das aussehen, und dabei gleichzeitig noch spielbar bleiben?

Schauen wir dazu erst einmal auf eine der Ideen dahinter und bilden ein Gegensatzpaar. Auf der einen Seite steht der freie Wille, die Möglichkeit das eigene Handeln bewusst zu bestimmen. Auf die andere Seite stellen wir die unbewusste Handlung, den Instinkt, den Reflex, das, was wir tun ohne darüber nachzudenken, ohne und zu entscheiden und ohne uns entscheiden zu können. Entmenschlichung heißt nun unseren freien Willen zu verlieren und durch den Zwang der Instinkthandlung zu ersetzen. Cyberware drängt uns stückweise weg vom bewussten und hin zum unwillkürlichen Tun.

Wie?

Betrachten wir einen Klassiker des Genres: Die Smartgun. Im metaphysischen Modell entmenschlicht sie den Träger, weil ihre reine Anwesenheit den natürlichen Urzustand seines Körpers verändert und seinen Energiefluss stört. Im Empathiemodell entmenschlicht sie, weil durch ihr Fadenkreuz betrachtet Andere nur noch wie Ziele und nicht mehr wie Personen wirken. Im Störungsmodell entmenschlicht sie, weil sie Gewaltbereitschaft und letztlich dissoziale wenn nicht psychotische Anlagen fördert.

Im Modell des freien Willens stört und entfremdet sie nicht. Sie integriert sich. Sie ist da. Und sie wird zum natürlichen Bestandteil der Wahrnehmungen und Handlungen ihres Trägers. Wenn uns jemand einen Ball zuwirft, fangen wir ihn. Wenn er jemanden ansieht… …erfasst er ihn. Unwillkürlich. Natürlich. Instinktiv.

Cyberware entmenschlicht, weil sie uns dorthin zurückbringt, wo wir einmal waren. Weil sie unsere atavistischen Fight-or-Flight-Reaktionen mit neuer Bedeutung füllt. Weil sie uns die spitzen Zähne, schnellen Beine, guten Nasen zurückgibt, die wir einstmals gegen Intelligenz, Bewusstsein, und freie Entscheidung eingetauscht haben.

Das "urbane Raubtier" bleibt so nicht länger nur ein romantisches Bild, das bis an die Zähne mit Chrom und Laborgewebe veränderte Cyberkrieger von sich selbst zeichnen. Es wird zur Realität. Zur Realität von Menschen, die wenigstens Teile ihres freien Willens zurückgegeben haben, an eine Natur mit chromglänzenden Zähnen und Klauen.

Soweit die Idee, die Theorie. Praxis im Rollenspiel bedeutet aber auch Regeln, und die lassen sich für dieses Konzept mehr als einfach realisieren und dabei auf ganz verschiedene Systeme aufsetzen.

Das Grundkonzept ist offensichtlich: Normalerweise hat ein Spieler meist die freie Entscheidung über die Handlungen seines Charakters. Cyberware beschränkt diese Freiheit und schreibt ihm bestimmte Handlungen vor.

Die offene Fragen sind wann tut sie das, und was für Handlungen sind das, die da vorgeschrieben werden.

Das schon oben in der Beschreibung gebrauchte Stichwort Fight-or-Flight gibt eine schöne Vorlage für das wann: Die Beschränkung tritt immer dann in Kraft, wenn ein Kampf beginnt oder eine Überraschungssituation eintritt – in vielen Spielen auch einfach durch die Faustregel "immer, wenn Initiative gewürfelt wird" abdeckbar.

Die Art der Handlung ist ein klein wenig kniffliger, aber auch nicht viel. Jedem Stück Cyberware kann eine eigene Handlung zugeordnet werden, die seiner Funktion entspricht (die Smartgun aus dem Beispiel könnte die Zuordnung "Zielen" (wenn es so etwas als Handlung in den Regeln gibt) oder "Schießen" haben).

Da das aber aufwändig werden kann, bietet sich eine etwas gröbere Klassifikation ebenfalls entlang der Fight-or-Flight-Linie an: Aggressive Handlungen (eventuell noch einmal unterteilt in Nah- und Fernkampf), und defensive Handlungen (eventuell mit einer Trennung in aktiv (rennen) und passiv (beobachten)). Die meiste Cyberware in einer Vielzahl von Systemen lässt sich gut in diese zwei bis vier Kategorien einteilen (manche Implantate mögen sich für mehr als eine Kategorie qualifizieren, sie können ruhig doppelt gezählt werden).

Die Frage bleibt bloß, was genau tut der Charakter jetzt? Dazu wird ausgezählt, von welcher Kategorie der Charakter am meisten Implantate hat: Diese bestimmt sein Handeln, da sie seine "neuen" Instinkte dominiert. Immer, wenn diese Instinkte ins Spiel kommen (also zum Beispiel zu Beginn eines Kampfes – siehe oben), muss der Charakter gemäß der Kategorie handeln. Dominieren also beispielsweise aggressive Nahkampfimplantate, dann muss er vorstürmen, um in Nahkampfreichweite zu kommen, oder direkt zuschlagen, falls er das schon ist. Bei Fernkampfinstinkt hingegen wäre das Ziehen oder Abfeuern eine Schusswaffe gefragt, bei aktiver Flucht das Wegrennen (ja, überraschend, ich weiß), und bei Aufmerksamkeit das Absuchen der Umgebung, die Aktivierung von implantierten Sensoren, Abrufen von Karten für Fluchtrouten oder ähnliches – zumindest ein wenig Gestaltungsfreiheit bleibt dem Spieler überlassen, auch wenn sein Charakter voll von seinen künstlichen Instinkten und Reflexen beherrscht wird.

Wie viele Handlungen auf diese Weise "vorherbestimmt" sind, sollte vom individuellen Grundregelsystem abhängig gemacht werden, und davon wie stark ihr diese Idee von der "Entmenschlichung durch Verlust des freien Willens" in den Vordergrund stellen wollt. Bei Systemen, in denen Charaktere ohnehin nur selten handeln können oder wenn die Sache mit dem freien Willen eher ein Gimmick sein soll, bietet es sich an, einfach nur die erste Handlung des Charakters (oder – je nach System ein bisschen härter – alle Handlungen in der ersten Kampfrunde) auf diese Weise vorzuschreiben. Wenn das System aber sowieso viele Handlungen produziert oder das Thema euch zufälligerweise richtig angemacht hat, dann ist eine Handlung (oder eine Runde) pro Implantat in der dominanten Kategorie (oder sogar pro Cyberwaresystem insgesamt!) ein guter Richtwert.

Gerade mit der brutaleren Lösung kann es auf einmal mehr als wichtig für einen Charakter werden, "Vorsichtsmaßnahmen" gegen sich selbst zu ergreifen. Du hast eine Smartgun und eine implantierte Kanone? Na, dann vielleicht lieber doch das Magazin immer nur dann in den Arm stecken, wenn du wirklich Ärger erwartest – nicht so schön bei jeder blöden Anmache gleich ein Feuergefecht zu eröffnen…

Wie sieht das "in der Praxis" – oder zumindest am Beispiel eines bekannten Charakters – nun konkret aus?

Werfen wir dafür einen Blick auf den Straßensamurai aus dem Shadowrun 4 Grundregelwerk:

Der Charakter verfügt über Reflexbooster, Dermalpanzerung, Kunstmuskeln und Cyberaugen (mit Blitzkompensation, Restlichtverstärkung, Schutzgläsern, Smartlink und Infrarot). Stufen und Qualitätsgrade sind für unsere Übung hier egal.

Die Reflexbooster, Kunstmuskeln, Dermalpanzerung und die Cyberaugen sind "Fight!"-Implantate. Davon entfallen Reflexbooster und Cyberaugen (Smartlink!) auf Fernkampf, Reflexbooster, Dermalpanzerung und Kunstmuskeln auf Nahkampf.

Die Reflexbooster, Dermalpanzerung und Cyberaugen sind "Flight!"-Implantate. Dermalpanzerung und Cyberaugen bevorzugen ein eher passives Vorgehen, Reflexbooster sind aktiv.

Wir landen also bei 3 Nahkampfimplantaten, jeweils 2 Implantaten für Fernkampf und passives Verhalten, und 1 Implantat für aktives Fluchtverhalten.

Mit drei Implantaten in der dominanten Kategorie bedeutet das – bei einer etwas aggressiveren Implementierung der Regel – drei "instinktive" Aktionen. Praktischerweise hat unser Strassensamurai (dank seiner Cyberware) auch drei Initiativdurchgänge. Was tut er also? … und warum überhaupt?

Nehmen wir eine von diesen beliebten Standardsituationen:

Die Runner haben gerade ihren Auftrag erledigt und sind nun auf schnellstem Weg unterwegs zu einem Treffen am Hafen, um die Ware jetzt los zu werden – möglichst ohne dass der Vorbesitzer sich einmischt. Da bemerkt unser Samurai plötzlich eine Bewegung neben einer der Lagerhallen (schön wenn man dank Cyberaugen so gut sieht, gell?) – Initiative!

Erster Initiativdurchgang: Katana ziehen und lossprinten. (Allgemeines Waffen Ziehen, Beobachten und in Deckung gehen bei den Unvercyberten)
Zweiter Initiativdurchgang: Zuschlagen.
Dritter Initiativdurchgang: Nochmal zuschlagen.

Herzlichen Glückwunsch, der Squatter ist ziemlich sicher tot.

…seht ihr, und da haben wir den Verlust des freien Willens, die Entmenschlichung, in der Praxis.

PS: Die üblichen Regeln eines Systems für (gegen?) Cyberware können natürlich mit dieser Idee kombiniert werden – oder aber sie können einfach komplett gestrichen und durch diese hier ersetzt werden. Das ermöglicht dann oftmals unvorstellbare Mengen an Implantaten… …zum Preis eines Zuschauerplatzes bei Kämpfen.

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