Medizinische Systeme – eine erste Untersuchung

(Eigentlich hätte dieser Artikel ja nur auf Englisch erscheinen sollen (und auch nicht unbedingt jetzt), aber dieser Thread im Tanelorn, hat mich nun doch dazu getrieben, ihn jetzt und zweisprachig zu Ende zu bringen. Insofern sage ich an dieser Stelle auch Danke an 1of3 und asri, für die vermutlich unbeabsichtigte Motivation.)

Ich glaube ja, am Rollenspiel ist mehr dran, was Spaß macht, als körperliche Auseinandersetzung und gewalttätige Konflikte. Soweit scheint mir das auch keine sonderlich strittige Aussage zu sein, weil mir da mehr als genug Rollenspieler beipflichten werden, die auch Spaß an den nicht gewalttätigen Elementen ihrer Spiele haben. Trotzdem drehen sich die Regeln zum Großteil um physische Kämpfe, zumindest solange wir uns einmal auf „klassische“ Spiele konzentrieren, eventuell ergänzt um soziale Konflikte, während andere Situationen bestenfalls an ein generalisiertes Fertigkeitssystem abgeschoben, direkt durch einen übergreifenden „eine Regel für alles“-Mechanismus, der überhaupt nicht nach verschiedenen Umständen unterscheidet, abgefangen werden, oder eben auch gar nicht verregelt sind. Daran ist ja erst einmal auch nichts verkehrt. Ich behaupte aber, dass es dadurch einen Unterschied gibt, in dem Spaß, den wir bei Kampfszenen (inklusive sozialem Kampf, wo dieser in Regeln gegossen ist) haben, und dem Spaß an den anderen, nicht gewalttätigen Sachen. Ich behaupte weiterhin, dass es problemlos möglich sein sollte, Regeln zu verfassen, die die Art Spaß, die wir beim Schnetzeln von Orks oder Abknallen von Nazi-Schergen haben, auch auf andere Situationen zu übertragen.

Allgemein gesprochen. Im Besonderen geht es mir dabei hier aber um eine Sache: „Medizin“. Das Bemühen von Sanitätern, Ärzten, Heilern oder wem auch immer darum Menschen zu helfen und zu behandeln ist ein wundervolles Thema für diese Art Spiel – und dabei mangelt es gleichzeitig bedauerlicher- und seltsamerweise an unterstützendem Material dafür.

Ich glaube einmal, dass zumindest einige, wenn nicht alle, von uns schon einmal eine Krankenhausserie gesehen oder einen Technothriller mit medizinischem Einschlag gelesen haben. Wir wissen also schon, dass eine Operation am offenen Herzen mindestens genauso dramatisch, actiongeladen und spannend sein kann, wie ein Feuergefecht in einer geheimen Militäranlage. Davon müssen wir nicht erst überzeugt werden. Aber wir brauchen einen Weg, das am Spieltisch auch umzusetzen, ganz so wie auf der Mattscheibe. Aber wie?

Als Allererstes würde ich dazu gerne einen Blick darauf werfen, was die besondere „Kampf-Erfahrung“ überhaupt ermöglicht.

Ich denke da sind vornehmlich vier große Faktoren im Spiel:
1) Es muss in den Regeln die Möglichkeit geben bedeutsame Entscheidungen zu treffen. Wofür der Spieler sich entscheidet, muss einen Unterschied machen, und den Ausgang der Situation beeinflussen können.

2) Die Handlungen müssen vorstellbar sein. Eine Entscheidung zwischen einer Option „A“ und einer Option „B“ kann auf einer völlig abstrakten Regelebene noch so bedeutsam sein, wenn ich mir weder unter „A“ noch unter „B“ irgendetwas vorstellen kann, dann ist der Wert fürs Rollenspiel gering. Ein Unterpunkt davon ist, dass ich in der Lage sein sollte, den relativen Wert von „A“ und „B“ basierend auf meinem Allgemeinwissen abzuschätzen, auch ohne tiefschürfende Kenntnis der Regeln oder der Spielwelt.

3) Es sollte ein gewisses Maß an Unsicherheit und Druck vorhanden sein. Der Spieler muss seine Entscheidungen hier und jetzt sofort treffen, und auch wenn es sicher günstig ist, vorauszuplanen, wird er seinen Plan doch den Entwicklungen – den Handlungen Anderer und den noch unbekannten Auswirkungen seiner eigenen – anpassen müssen.

4) Der letzte Punkt ist eine Frage des Maßstabs und ist eng mit der obigen Vorstellung vom Druck verknüpft. Das Problem sollte ein unmittelbares sein, nicht nur für den Spieler, sondern auch für seinen Charakter, und die Situation sollte ihn direkt betreffen.

Kampf erfüllt offensichtlich alle vier dieser Kriterien.

Die meisten Kampfsysteme bieten uns eine ganze Masse an Optionen an, aus denen wir wählen können, von verschiedenen Waffen und Rüstungen, hin zu differenzierten Kampfmanövern. Diese Optionen beeinflussen sowohl den Ausgang, und können auch noch gut visualisiert werden (die Entscheidung einen Gegner zu entwaffnen oder ihn direkt anzugreifen kann den ganzen Verlauf eines Kampfes verändern, und den Unterschied zwischen einem Ritter in Plattenharnisch und Zweihänder auf der einen, und einem in eine leichte Lederrüstung gehüllten Schurken mit zwei Dolchen erkennt auch das innere Auge sofort). Dieses mentale Bild und der eigentliche Regeleffekt können zudem auch noch gut zur Deckung gebracht werden, denn auch ohne ausgiebiges Regelstudium werde ich schon beinahe instinktiv erfassen, dass der Ritter vermutlich härter im Nehmen sein wird, und dass Entwaffnen vor allem bei einem zähen Gegner mit einer gefährlichen Waffe angezeigt sein könnte. Das alles verstehe ich sofort, und muss es nicht erst mühselig „erlernen“ (auch wenn ich die Feinheiten sehr wohl erst unterscheiden lernen muss – zum Beispiel, dass in dem einen Regelwerk der Zweihänder mehr Schaden anrichten wird, in einem anderen aber die beiden Dolche insgesamt gefährlicher sind).

Kampf ist natürlich auch eine hoch dynamische Angelegenheit, bei der ich kurzfristig Entscheidungen treffen muss – greife ich jetzt noch einmal an? – und mir meines Erfolgs nicht sicher sein kann – mache ich wirklich genug Schaden, um ihn umzuhauen? – und all meine Pläne jederzeit durch eine unerwartete Aktion meines Gegners (oder durch schlichtes Pech) vereitelt werden können. Kampf im Rollenspiel ist zudem auch in aller Regel eine sehr direkte und persönliche Erfahrung – es dreht sich da um dich und deine Kameraden, die ihr euch eine Schießerei mit den Kerlen auf der anderen Seite der Straße liefert, und nicht um einen General, der vom sicheren Hauptquartier aus seine Befehle erteilt. Ersteres ist das Gebiet von Rollenspielen, letzteres – obwohl es interessant sein kann, es auszuspielen – bewegt sich hingegen in das Feld echter Kriegsspiele, da es sich sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Dimension vom Schicksal des einzelnen Charakters entfernt.

Aber was ist denn nun mit der Medizin? Meiner Meinung nach, kann auch die alle vier Kriterien erfüllen.

Was die Regeln angeht, müssen die Optionen offensichtlich erst geschaffen werden, aber vorstellbar (und dann in Regeln umsetzbar) sind solche verschiedenen Möglichkeiten allemal – nicht umsonst wird auch von „Behandlungsmöglichkeiten“ gesprochen. Sie dann auch noch mit dem Allgemeinwissen in Einklang zu bringen, ist auch problemlos möglich. Sicher, als Laie kann ich mit dem Unterschied zwischen Tamoxifen und Trastuzumab so rein gar nichts anfangen , aber eine ungefähre Vorstellung davon, was es heißt jemand einfach nur mit Schmerzmitteln vollzupumpen oder einen Knochenbruch ordentlich zu richten, werde ich schon eher haben (ganz genauso, wie ich auch eine Bardiche und eine Glefe vielleicht nicht auseinanderhalten kann, aber sehr wohl verstehe, was den Unterschied dazwischen ausmacht, jemanden KO zu schlagen oder ihn umzubringen). Kurz gesagt, ich kann eine „medizinische Begegnung“ in eine Reihe möglicher Teilentscheidungen herunterbrechen, die von einem Spieler auch ohne Medizinstudium aufgenommen werden können, und die sich in verschiedene (und bedeutsame) Regeleffekte umsetzen lassen.

Auch Unsicherheit findet sich in solchen medizinischen Situationen leicht wieder. Weder mit Medikamenten noch mit chirurgischen Eingriffen oder anderen Therapiemaßnahmen gibt es eine Erfolgsgarantie. Dementsprechend groß kann der Druck werden, der auf den Behandelnden lastet, wenn sie Entscheidungen über ihr weiteres Vorgehen zu treffen haben. Jenseits des Managements ganzer Krankenhäuser oder Gesundheitssysteme kann Medizin auch in ähnlicher Weise persönlich werden wie Kämpfe es tun, auch wenn die eigentlichen Risiken natürlich häufig von Anderen als den (be)handelnden Charakteren getragen werden – namentlich ihren Patienten. Zeit kann ebenfalls ein kritischer Faktor sein, aber die ganze Dynamik der Situation kann auch leicht weniger dringlich ausfallen als im Kampf. Während Erste Hilfe und Notoperationen eventuell die gleichen augenblicklichen Entscheidungen erfordern, die so charakteristisch für Kampfszenen sind, werden in vielen anderen Fällen die Behandlungen Stunden oder Tage in Anspruch nehmen, und ihre Effekte erst noch viel später eintreten. Spätestens bei chronischen Krankheiten, bei denen eine Therapie Monate oder Jahre dauern mag, beginnen wir daher wieder den Bereich des dynamischen Rollenspiels zu verlassen, ganz so, wie wir es beim Wechsel auf die Generalstabsperspektive für Schlachten und Kriege tun.

Das sind nun aber Alles noch recht vage „abgehobene“ Ideen. Theoretisch sollte das funktionieren, aber wie können wir das wirklich in einen Satz von Medizinregeln für ein Spiel umsetzen?

Wie üblich, gibt es dafür wohl endlos viele mögliche Herangehensweisen, die in zahllosen einander mehr oder weniger ähnelnden Spielen enden würden – eigentlich wieder genauso, wie beim Kampf.

Gerade wegen dieser Kampfanalogie, die uns hierher geführt hat, ist die generelle Richtung, die ich einschlagen würde (sowohl für einen Hausregeln für ein existierendes Spiel, als auch für ein ganz neues „Medizin-Rollenspiel“, sollte ich eines schreiben wollen), die, die Analogie noch ein Stück weiterzutreiben, und auch noch den fünften Punkt von Kämpfen aufzugreifen, der zwar in den anderen vieren versteckt ist, aber bisher nicht gezielt angesprochen wurde: Ein Feind, den es zu bekämpfen gibt.

Durch den „einfachen“ Schritt medizinische Probleme – von schweren Verwundungen hin zu ansteckenden Krankheiten – mit einem Profil, inklusive Werte und Fähigkeiten, auszustatten, wie es auch für Gegner im Kampf benutzt wird, ergibt sich alles andere quasi von selbst.

Handlungsoptionen in den Regeln werden einfach handhabbar, indem sie die verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten mit dem Profil ausnutzen (ganz wie bei Waffen, Rüstungen oder Kampfmanövern – ein Zweihänder macht viel Schaden, verursacht aber einen Initiativabzug, während ein sehr potentes Medikament eventuell eine verzögerte Wirkung hat). Abhängig vom genauen Aufbau der Profile, kann das sogar mit der Vorstellbarkeit helfen, wenn, wie im Schwert- und Medikamenten-Beispiel oben, die Werte sich direkt mit einer vorstellbaren Eigenschaft verknüpfen lassen.

Der eigentliche Vorteil dieses Vorgehens liegt allerdings im Bereich von Druck und Maßstab. Indem der Krankheit ein „Gesicht“ verliehen wird – das heißt, indem sie ein Gegnerprofil bekommt –, wird der Kampf gegen sie noch weiter in die persönliche und unmittelbare Richtung getrieben. Indem ihr „aktive“ Fähigkeiten gegeben werden, verwandelt sie sich von einem berechenbaren Zustand, den es einfach nur abzuschütteln gilt, in einen unberechenbaren, dynamischen, (handelnden) Feind, der die Charaktere bedrohlich auf Trab hält.

Zu guter Letzt erleichtert dieser Weg die Verzahnung mit bestehenden Regelsystemen. Insbesondere, da mit ihm weitgehend vermieden werden kann, das komplette Schadensmodell eines Systems umzubauen – da die Erkrankungen ja nicht in dieses Modell integriert werden müssen, sondern sich ganz im Gegenteil seiner Mechanismen bedienen, um über ihre jeweiligen Fähigkeiten selber (weiteren) Schaden anzurichten.

Und damit bin ich, zumindest für diesen Artikel, am Ende.

3 Kommentare


  1. If there is one thing to take away from the combat system, it is this – All of the results emphasize the end effect, not how it’s achieved. What does that mean? It means that someone could have every box on their wound track filled in, and not have a scratch on them. Clips, Hurts and even injuries are just as often the result of a momentary advantage or disadvantage, the psychological upper hand, a physical impediment, embarrassment or nearly anything else that reduces effectiveness. Bearing that in mind, and combining it with the rules for challenges (see „Tests and Challenges“) means that the combat system is easily extended into other conflict, like debate.

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  2. Interessante Idee, scheint mir für klassisches Rollenspiel aber zu abgehoben. Kämpfe „müssen“ jeden am Tisch interessieren, weil ihr Charakter (und damit das ganze weitere Spiel) davon abhängt; an detaillierten Medizinregeln haben vermutlich nur wenige Spieler Interesse, und noch weniger werden nur wegen ausfürhlicher hippokratischer Konfliktregeln medizinisch begabte Charaktere spielen. Ich sehe da eher die Gefahr eines weiteren „aufgeblasenen“ Subsystems (vgl. Hacking bei Shadowrun, Beschwörung bei DSA), das im Spiel die Handlung aufhält und alle Nicht-Heiler-Spieler ausbremst.

    Was nicht heißen soll, dass „medizinische Konflikte“ insgesamt nicht Aufmerksamkeit verdienen – nur denke ich nicht, dass man dieses Feld (im klassischen Rollenspiel) regeltechnisch aufblasen sollte. Sonst kommt sowas dabei raus: http://vinsalt.regioconnect.net/wbb2/attachment.php?attachmentid=2600 – und da geht es noch nicht mal um verschiedene Medikamente etc. …

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    1. Ich würde meinen, dass das verlinkte Beispiel auch in Bezug auf die im Beitrag angedachten Kriterien nicht besonders gut abschneidet. (Wobei verschiedene Medikamente da sogar noch helfen könnten, indem sie vorstellbarere Optionen einbringen.)

      Aber der Hauptpunkt ist natürlich ein ganz anderer:

      Ein solches (Sub-)System steht und fällt mit dem Interesse der Spielenden. Wenn dieses nicht vorhanden ist, dann ist die ganze Übung, wie du richtig anmerkst, effektiv hinfällig.
      Interesse müssen wir daher als gesetzt betrachten (zumindest wenn “wir” ein Interesse haben, den Gedankengang fortzuführen).
      Das gilt aber hier nicht anders als für andere Bereiche (wenn niemand Interesse an Kämpfen, an Handel, oder an den Verstand zerschmetternden Wahrheiten hat, dann erübrigen sich auch die jeweils dafür gegebenenfalls vorgesehenen Subsysteme).

      Ein anderer Punkt ist die Frage nach der Auswahl beziehungsweise der Einbeziehung der Charaktere.
      Einerseits können wir natürlich schlicht das gegebene Interesse der Spielenden ausnutzen, und die “Medizin” tatsächlich zum zentralen Thema machen, mithin auch alle Charaktere zu “Medizinern” (im weitesten Sinne). Nicht anders als bei anderen thematisch eng ausgerichteten Kampagnen, die ebenfalls bestimmte Konzepte verlangen (ob nun Söldner, Privatdetektive, oder Highschoolschüler).
      Andererseits können wir uns natürlich bemühen, die Umsetzung in den Regeln so zu gestalten, dass auch weniger spezialisierte Charaktere sich sinnvoll einbringen können (für einen gegebenen Wert von “sinnvoll”). Bei der ersten Fingerübung zu Medical Systems http://d6ideas.com/?p=3788&lang=en war das zum Beispiel eines der Ziele für mich. Das hängt aber natürlich (Kriterium der Vorstellbarkeit) auch sehr stark von den übrigen Rahmenbedingungen des Hintergrundes ab.
      Zuletzt kann – da ist dann aber natürlich wieder die Einstellung der jeweiligen Spielgruppe entscheidend – ein “Spotlight-Subsystem”, indem nur ein oder einige wenige Charaktere zum Zuge kommen, als weniger störend empfunden werden, als es für die von dir zitierten Shadowrun-Decker so oft beschrieben wird.

      Kurz:
      Die Anmerkungen zur eingeschränkten “Massentauglichkeit” halte ich für richtig.
      “Echte” Massentauglichkeit ist für mich aber auch kein entscheidendes Kriterium.

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