Prozedurale Diversität – rolled inclusivity

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Wenn Diversität und Inklusion im Rollenspiel – auf Spielwelt- und Personnagenebene, um den Tisch herum müsst ihr das schon selber machen – thematisiert wird, empfinde ich immer wieder eine massive Lücke in vorgestellten Ideen und geführten Diskussionen.

Es ist unter anderem dieser Eindruck, das (z)erdrückende Gefühl einer unvollständigen, mehr noch, einer beinahe eingleisigen und – wenn ich Gift und Zynismus freieren Lauf lasse – geradezu exklusiven Behandlung, bei der Themen dogmatisch anmutend nur (ohne das „noch“, das manche vielleicht hier hereinlesen möchten, da das in meinen Augen kein neues Phänomen ist) auf eine ganz bestimmte Weise, in einer Auslegung, mit einem Ansatz, von einer Stimme vertreten, besetzt, ja, vereinnahmt werden, der mich jetzt wieder dazu treibt, doch nach zehn und mehr Jahren wieder selbst etwas zu sagen zu Dingen und nicht wie in der Zwischenzeit (mal mehr, mal weniger erfolgreich) den Mund zu halten.

Oder vielleicht bin das auch nur ich, und ich höre nicht richtig hin.

Aber der Reihe nach.

Worüber gesprochen wird ist gefühlt vor allem der Ansatz, Personnagen gezielt divers zu gestalten und so die Spielwelt inklusiv(er) zu machen. Am Anfang steht die Absicht, eine Personnage mit einem bestimmten – ich benutze jetzt einmal ganz allgemein Merkmal, um mich der auf meine Gedanken einprasselnden Beispiele zu erwehren – Merkmal zu erstellen, mit dem Ziel diesem Merkmal Repräsentation in der Spielwelt zu sichern. Das Merkmal steht hier am Anfang des Prozesses. Ich belege das einmal mit der Bezeichnung geplante Diversität (oder künstliche Diversität).

Daneben, aber weniger im Fokus, steht der Ansatz, Personnagen quasi aus sich heraus (also tatsächlich aus der Vorstellung der Gestaltenden) divers werden zu lassen. Ihre Merkmale werden ihnen ohne besondere vorgefasste Absicht als Teil des kreativen Schaffens (welche bewussten oder unbewussten Techniken auch benutzt werden) zugeschrieben. Die Personnage steht hier am Anfang des Prozesses. Ich nenne das diesmal zufällige Diversität (oder kreative Diversität).

Worüber ich heute sprechen möchte ist aber ein dritter Ansatz. Das, was ich prozedurale Diversität nenne (ursprünglich eigentlich prozedurale Inklusion, aber sei es drum).

Gemeint ist damit der Einsatz von Modellen (meist Würfel- oder anderen Zufallsmodellen) um Merkmale von Personnagen zu ermitteln, deren Diversität somit zu einer Funktion des Modells wird, über das so die Spielwelt selbst beschrieben wird, die dadurch hier auch am Anfang des Prozesses steht.

Die einzelnen Personnagen werden zum Ausdruck dieser Welt, als fiktive Individuen weder ganz den Zielstellungen noch den Launen (und den möglichen Scheuklappen) der Schöpfenden unterworfen.

Ich könnte jetzt nachträglich auf diverse (kein Wortspiel beabsichtigt) Artikel und Personnagen der letzten Jahre hier auf d6ideas verweisen und die hinter ihren (nicht unbedingt immer in den Artikeln klar benannten) Eigenschaften liegenden Modelle sichtbar machen, aber stattdessen möchte ich lieber nach vorne schauen und den Ansatz am konkreten Beispiel der Wilden Gestade illustrieren, wo eben nicht nur Dinge wie Gesinnung, das Verhältnis zum Lotus (in sich ja durchaus einen ganzen Strauß an sozioökonomischen Fragen mitbedienend) oder die von tassander skizzierten Elemente wie Volkszugehörigkeit (gerade im Deutschen halte ich das ja übrigens für eine nicht unbedingt weniger geladene Bezeichnung im Vergleich zu Rasse) speziell in Abhängigkeit vom Umfeld der Siedlung (ganz zu schweigen von der zufälligen Ermittlung von Eigeschaftswerten und deren [möglichen] Ableitungen und Implikationen) über Würfelprozeduren modelliert werden, sondern auch Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung, die ich hier als mein konkretes Beispiel verwenden möchte:

Die Geschlechtsidentität einer Personnage wird mit 2W20 ermittelt, einem „weiblichen“ Würfel und einem „männlichen“. Wenn der weibliche Würfel einen höheren Wert zeigt, dann hat die Personnage eine weibliche Identiät, zeigt der männliche Würfel den höheren Wert, dann eine männliche. Wenn beide Würfel den gleichen Wert zeigen, hat sie eine nicht-binäre Identität, deren Details auszugestalten sind.

Die sexuelle Orientierung wird mit einem dritten W20 ermittelt. Bei 1-15 ist die Personnage im weiteren Sinne heterosexuell, bei 16 homosexuell, bei 17 bisexuell, bei 18 pansexuell (im Zusammenhang mit den Wilden Gestaden auch „Monster“ miteinbeziehend), bei 19 asexuell, und bei 20 hat sie eine andere, auszugestaltende Orientierung.

Zu diesem simplen Modell ein paar Anmerkungen:

Der W20 ist keine völlig willkürliche Setzung. Für die Geschlechtsidentität wollte ich in den Wilden Gestaden einerseits eine Gleichverteilung von weiblichen und männlichen Personnagen (in einem anderen Milieu könnte ein anderes Modell angezeigt sein) sowie eine Chance von circa 5% für nicht-binäre Personnagen. Das 2W20-Modell liefert genau das, ist dabei einfach handhabbar, und einfach zu modifizieren, um in Einzelfällen doch noch eine Unwucht (am einfachsten über Boni/Mali auf die Würfel) einzubringen, ohne gleich auf ein ganz anderes Modell umzustellen oder direkt eine (Willkür-)Entscheidung/Setzung zu treffen.

Ich hatte eine Weile lang überlegt, die Ermittlung der Orientierung mit der der Identität zu verschränken, indem einem (oder beiden) Identitätswürfel bei der Ermittlung der Orientierung eine Rolle zukommen könnte. Ich habe mich dagegen entschieden, sowohl aus Gründen der Handhabbarkeit, als auch um hier gerade schon auf der Modellseite eine echte Unabhängigkeit zu unterstreichen (lieber ein Würfel mehr, als eine Implikation dass „eine echte Frau [hoher Wurf auf dem weiblichen W20] natürlich … [was auch immer dann die Verknüpfung/Aussage des weiblichen Würfels für die Orientierung geworden wäre] ist“).

Die 75% heterosexuellen Personnagen sind absichtlich angesetzt, um ein etwas weniger ausgeprägtes (aber bei weitem nicht gänzlich aufgelöstes) heteronormatives Umfeld wiederzuspiegeln, und um Raum insbesondere für die 10% pansexuellen und auszugestaltenden Personnagen (wobei für letztere auch wieder die fantastischen Elemente der Spielwelt mit zu beachten sind) zu schaffen. Die hoch erscheinenden 5% asexuellen Personnagen sind wiederum den Grenzen des W20 kombiniert mit meinem Wunsch, diese Orientierung nicht mit in den undefinierten Bereich einzugliedern, geschuldet.

Insgesamt wäre es selbstverständlich möglich gewesen hier noch mehr und genauer zu modellieren. Nach einigem gedanklichen Hin und Her und mehreren Versuchen habe ich mich für die Wilden Gestade allerdings dagegen entschieden, nicht zuletzt der kompakten Darstellbarkeit und schnellen Lesbarkeit halber und um mir mehr und flexiblere Ausgestaltungsmöglichkeiten innerhalb des Spannungsfeldes von vielen aber eben nur punktuell prozedural ermittelten Details (nicht nur der Personnage sondern auch ihres Umfeldes) zu erhalten. Letzteres ist natürlich auch ein Ausbrechen in Richtung auf die einleitend beschriebene zufällige (kreative) Diversität, aber es geht mir hier um ein praktisches Beispiel, nicht um eine abstruse „Reinheit der Lehre“, und Praxis bedeutet für mich häufig (sehr häufig – wenn nicht gar immer?) Kompromiß oder besser Synthese. Die gemischte Anwendung mehrerer sich ergänzender, stützender, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit gegenseitig aufwertender Ansätze.


Zum dritten Disputorium.


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