RPG-Blog-O-Quest #29 – Das perfekte Rollenspiel
yandere: Wie wäre es, wenn ich nen kurzen Satz vorlege und du mir darauf antwortest. (Weil mir fallen wirklich nur Einzeiler ein und ich denke so kann man, wenn man so will, am meisten aus der Sache rausholen.)
blut_und_glas: Also meine kurzen Sätze zu den ersten fünf Fragen lauten allesamt „gibt es nicht“.
Beziehungsweise „sollte es nicht geben“.
Alternativ auch mit einem „für mich“.
yandere: Dann fang ich an und du kannst mich anchatten.
blut_und_glas: Was? Du hättest dazu was anderes zu sagen?
- Über- und Unterwürfeln, Poolsysteme, Karten ziehen oder erzählerische Fakten schaffen – die Liste der Mechanismen ist lang. Die perfekten Rollenspielregeln …
yandere: … bringen einen Powergamer dazu sich interessante und abgerundete Charaktere zu bauen. Wenn die beste Lösung im Crunch, die beste Lösung im Fluff ist, hat der Spieledesigner alles richtig gemacht.
blut_und_glas: Ich bin ganz vor den Kopf gestoßen davon, wie unkompliziert konstruktiv/positiv du mit der Frage umgehst. Mir bohrt sich die Perfektion als Idee von einem einzelnen singulären Produkt viel zu sehr ins Hirn und produziert zuvorderst eine Abwehrreaktion, die ich erst niederkämpfen muss. Und selbst dann bleibt hauptsächlich Kritik übrig, wenn auch im bewussten Versuch ein wenig konstruktiv zu sein, wenigstens eine auf konkrete Einzelheiten gerichtete Kritik.
„Perfekte“ Regeln – und dazu habe ich mich auch früher schon ausgelassen – entziehen beispielsweise dem mir so wichtigen Aspekt des eigenen Erweiterns, Veränderns, der Hausregeln und -ergänzungen, die Grundlage. Die perfekten Regeln sind in dieser Hinsicht also imperfekt, der Widerspruch ist in ihnen von vornherein angelegt.
Matze: Also Qualität eines Spiels zu verstehen, als der Grad inwiefern das, was gemacht werden soll, auch von den Regeln abgedeckt wird, ist glaube ich die klassische Antwort. Ist halt nur bisschen leer und unklar, was konkret damit gemeint wird.
Also, ein Spiel könnte iwie perfekt sein, ohne dass jemand es spielen wollen möchte, wenn Fluff und Crunch perfekt aufeinander passen aber der Fluff niemandem gefällt?
yandere: Ich lese ja Perfektion mehr im Sinne von „ideal“. Insgesamt kann ein perfektes System für mich daher imperfekt sein. Bei der Frage an sich ging es halt um die Mechaniken aka Crunch insofern hab ich nur beschrieben, was der Crunch meines Erachtens tun muss ohne den Fluff zu betrachten.
Matze: Hmm, ist System nur Crunch für dich? Der Unterschied zwischen Crunch und Fluff scheint mir nämlich sehr flüssig und „fuzzy around the edges“ zu sein.
blut_und_glas: In meinen Augen ist es beinahe schon so, dass selbst die Suche nach „perfekten“ Regeln immense Schattenseiten mit sich bringt. Da schwingen, gerade wenn wir auch auf das schauen, was Matze gerade gesagt hat, solche Dinge mit wie die Vorstellung von „best practices“ (für RPG Design), die leicht scheuklappenartig und blickverengend Mechanismen ausschließen, weil sie nicht (mehr) in die gesetzten Raster fallen, die isolierte Betrachtung von Einzelelementen, womit Effekte, die erst durch das Zusammenwirken von verschiedenen Regeln entstehen, und die Möglichkeiten eines ganz klassisch die Summe seiner Teile übersteigenden Ganzen, verleugnet werden (und damit dem Rollenspiel entzogen werden!), und es verschließt sich viel zu leicht auch alternativen Interpretationen und dem, was ich manchmal als paradoxe Regeleffekte bezeichne (dass Regeln also im Spiel zunächst kontraintuitiv erscheinende Dinge bewirken, zum Beispiel wenn ein detailliertes Kampfsystem zu weniger Kämpfen führt, da die Spieler vor der über die Regeln greifbar gemachten Gefahr zurückschrecken).
Die Art, wie Merimac die Fragen aufgebaut hat, impliziert erst einmal diese sehr… klassische Trennung in System und Hintergrund.
Das ist für so einen starren Katalog, der ja dazu dienen soll, strukturierte Antworten von möglichst vielen verschiedenen Leuten (Rollobloggern) zu bekommen, auch methodisch so verkehrt nicht.
yandere: Ich würde ansich auch Matze zustimmen, dass die Trennung eher schwammig ist, aber ich hatte dieselbe Beobachtung wie bug gehabt und bin daher der Prämisse gefolgt.
- EDO, Sword & Sorcery, Harte SF, Postapokalypse – so viele Genres. Das perfekte Rollenspielsetting …
yandere: … ist das wozu ich grade Lust habe.
blut_und_glas: Das ist schon wieder eine viel freundlichere Antwort, als sie mir fast reflexartig auf die Zunge kommt.
Mich drückt auch hier die Vorstellung vom „perfekten Rollenspiel“ als einem bestimmten Produkt, einem Ding. Und darin liegt dann auch wieder – wie bei den Regeln letztlich – die Negation von Rollenspiel als etwas… Großem.
Es reduziert das Rollenspiel auf… ja, auf ein Ding eben.
Matze: … ist natürlich eine Frage der eigenen Präferenzen. Interessant ist jedoch, zu überlegen woher diese Setting-Präferenzen und eingefahrenen Intuitionen kommen (es sollte auch ein unterschied zwischen Genre und Setting gemacht werde, ich spreche hier nur von Setting, auch wenn auch hier der Unterschied flüssig sein kann).
Die gewählten Beispiele haben nämlich einen sehr klassischen Unterton, nicht dass das notwendiger Weise etwas schlechtes wäre, nur ist es eben interessant, dass wenn man von Setting redet, idR immer bestimmte Archetypen im Kopf sind: Das Bild von Fantasy ist oft mitteleuropäisch, patriarchalisch, kapitalistisch. Mit schottischen Zwergen, die französische Elfen hassen, und Orks, die oft in einer für bestimmte Ethnien unschmeichelhaften Art und Weise dargestellt werden.
Das Bild was bei SF oder Cyberpunk im Kopf ist, ist ein ganz anderes und das ist schon interessant iwie.
Auch muss ich blut_und_glas wieder zustimmen. Das Setting ist immer nur so gut wie die konkrete Runde, die mit dem Setting spielt. Setting unabhängig von der Spielrunde ist schwierig.
blut_und_glas: Auf die Archetypen wäre ich spontan jetzt gar nicht so eingegangen, die habe ich mehr als Platzhalter verstanden bei dieser Frage. Aber ja, so gesehen käme das noch hinzu, dass die Perfektion hier in Verbindung zum Althergebrachten gestellt wird.
- Aufwändige Hardcover, günstige Taschenbücher, Boxen oder PDFe. Das perfekte Starterprodukt …
Matze: ICH MAG BOXEN
yandere: Das ist erstaunlich undifferenziert. Ich hätte jetzt eher den Anspruch an Vollständigkeit des System-Kerns gestellt, den viele gerne verunstalten, um ein Starter-Produkt zu veröffentlichen… Und ja das kann man meinetwegen auch in einer Box machen.
Matze: BOXEN
blut_und_glas: Ich meine gut, diesmal geht es ja tatsächlich und eindeutig um Dinge. Demnach ist das irgendwie keine ganz so einwandfreie Kritik an dieser Stelle, aber es gibt so viele Möglichkeiten! Die Vielfältigkeit ist auch hier etwas, das ich nicht zu Gunsten einer einzelnen, „perfekten“ Ausprägung missen möchte.
Matze: Ok, ich kann das auch erklären. Boxen begeistern einen zum Spielen und das ist am Wichtigsten für Startprodukte: Da sind fertige Bögen, auf gutem Papier drinne, coole Kunst zum inspirieren und fertige Karten mit einer Welt, wo man sich fragen kann, was wo denn alles ist.
blut_und_glas: Meinst du das jetzt in Bezug auf Starterprodukte zum Start in ein bestimmtes Spiel? Oder ins Rollenspiel an sich? Siehst du da überhaupt einen Unterschied?
Matze: Ich dachte jetzt für Neulinge, die ins Rollenspielen kommen wollen. Für mich ist das beste Produkt für ein Spiel so wenig text wie möglich und das bitte gut gelayouted.
Was glaubt ihr denn ist ein gutes Einsteigerprodukt? Kommt das immer auf das individuelle Produkt an oder gibt es eine Art der Präsentation, die ihr hilfreich findet?
blut_und_glas: Ich tue mich da wie gesagt wieder schwer mit der Reduktion auf eine einzige, beste, „perfekte“ Form.
Zumal es gerade im Rollenspiel auch so viele Dinge gibt, die schlicht unterrepräsentiert sind.
Matze: Also meinst du, das die Formen mehr oder weniger alle gleich sind, was ihre Qualität als Starterprodukte angeht?
blut_und_glas: Ich glaube, du kannst auf vielen Formen sehr gute Starterprodukte aufsetzen. Vielleicht sogar gerade auf den nicht sofort naheliegenden Formen. Wo ist zum Beispiel das Einstiegs-pdf mit integrierten Animationen für manche Abläufe?
yandere: Ich denke ich hab schon alles gesagt. Es reduziert das Produkt auf das Wesentliche ohne etwas zu verlieren. Was zugegebener Maßen ein wenig wie ein Oxymoron klingt.
- Metaplot und Sandkasten, Splat-Books und Hintergrundbände, One-Shots und Kampagnen – Möglichkeiten, sich in einem Rollenspiel auszutoben, gibt es viele . Die perfekten Ergänzungspublikationen …
yandere: … ist etwas, für das ich tatsächlich Geld locker machen würde. Ich könnte tatsächlich nicht beschrieben, was die Ergänzungsprodukte bei mir zu Hause gemeinsam haben, außer das ich sie interessant finde.
Matze: Aus der Sicht der Leitung, das was konkret nützlich ist und mir Arbeit abnimmt, ohne mich mit langweiligen kram vollzustopfen: Interessante Tabellen, Monster, Fallen etc. Was ich nicht brauche sind idR Hintergrundbände oder ähnliches, die mehr Arbeit machen als helfen. Aber das kommt natürlich immer auch auf das konkrete Produkt an.
Als Spieler sieht das jedoch vermutlich anders aus.
blut_und_glas: Wenigstens ist es diesmal Plural (die perfekten Ergänzungspublikationen). Das hilft dabei, mich weniger angestochen zu fühlen, wenn auch nicht dabei ,konstruktiver im Sinne von konkreter zu sein.
Ich könnte und wollte auf jeden Fall keine „Klasse“ von „perfekten“ Ergänzungspublikationen benennen oder auch nur konkrete Eigenschaften für sie benennen. Beispiele (auch wenn ich da vor „perfekt“ zurückschrecken würde) ginge allenfalls. Aber das bringt ja auch nichts, da bin ich dann bei meinen Vorrednern.
- Würfel, Spielleiterschirm, Kartenwerk oder Spielkarten. Das perfekte Rollenspielzubehör …
yandere: … ist notwendig und hinreichend.
Matze: … ist die FANTASIE
Im Ernst: Zubehör ist ziemlich egal.
blut_und_glas: Ich möchte widersprechen.
Matze: Vlt. coole Maps oder so aber das scheint kein Zubehör zu sein, in dem Sinne hier.
blut_und_glas: Rollenspiele können über ihr Material hinauswachsen. Das halte ich für eine wirklich bemerkenswerte Eigenschaft.
Ich halte es aber für einen Fehlschluss, daraus dann abzuleiten, dass Rollenspiel kein Material, kein Zubehör brauche (beziehungsweise die Extremform dieser Meinung, dass „wahres“ [„perfektes“?] Rollenspiel keines haben dürfe!), und sich diese Eigenschaft am besten darin zeige „aus nichts etwas zu machen“ (also ohne Zubehör zu spielen).
Natürlich kann Rollenspiel „aus nichts etwas machen“.
Aber noch viel eindrucksvoller ist es in meinen Augen, dass es „aus allem mehr machen“ kann. Aus allem.
Matze: Ich meinte lediglich Zubehör sei weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung für ein „perfektes“ (oder auch nur gutes) Rollenspiel.
blut_und_glas: Stimmt.
Keine Einwände an dieser Stelle.
yandere: Ich glaube ihr habt das mit dem notwendig und hinreichend nicht verstanden…
Matze: Ich glaube ich habe das verstanden.
blut_und_glas: Mich stört an der Frage einfach wieder das Beschränkende. Begrenzende. Rollenspiel ist aber auch das Sprengen von Grenzen. Gerade auch in Sachen Zubehör.
yandere: Es war in erster Linie ein Mathematik-Witz (Wikipedia). Wenn ich es ausführen sollte, denke ich, dass jedes Rollenspiel ein Set an notwendigem Zubehör hat. (Zettel und Stift, ein paar Würfel, vielleicht mehr vielleicht weniger). Allerdings ist, wenn man den Kram zusammen hat, nicht unbedingt gesagt, dass dies tatsächlich hinreichend ist. Ich denke an unsere UMS-Runde wo die Gundam-Figuren tatsächlich den Kämpfen nicht mal eine völlig andere Qualität geben und die Fantasie zusätzlich beflügeln. Wobei schlussendlich Rollenspiel sich eben über sein Material erhebt. Was immer notwendig ist, um ein bestimmtes Spiel zu spielen, und was hinreichend ist, um die Fantasie zu beflügeln, sehe ich als das perfekte Material.
Matze: Was ist der Witz?
yandere: Der Witz ist, dass normalerweise niemand so redet. Ernsthaft, wann du das letzte mal außerhalb von Schule oder Universität notwendige oder hinreichende Bedingungen Verwendung finden sehen. (Witz demnach im Sinne einer nicht 100%ig ernstgemeinten Aussage.)
Matze: Ah ok.
Ich rede immer so, aber ich bin auch komisch.
blut_und_glas: Kam mir jetzt auch nicht ungewöhnlich vor…
yandere: Ihr seid meine Realsatire…
Bonusfrage:
Und dieses perfekte Produkt darf dann gerne geschrieben / publiziert werden von …
yandere: … dem Typen, der es kann.
Matze: James Raggi und lotfp. Lieber Individuen als Firmen.
blut_und_glas: Von jemand unbekanntem, der danach in der Versenkung verschwindet. Keine Heldenverehrung.
yandere: “Dem unbekannten Rollenspielautor”
Matze: Ist nicht jeder Rollenspielautor praktisch unbekannt?
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Nun habt ihr also die alte Idee, die Blog-O-Quest mit dem Vorschlaghammer zu bearbeiten, an meiner jüngsten Version umgesetzt. Nicht unbedingt die Art von Antworten, die ich mir beim Formulieren der Fragen vorgestellt habe, aber dennoch sehr ergiebig und die Augen öffnend.
Nur so viel noch von meiner Seite zum anscheinend höchst umstrittenen, von mir bewusst provokativ gesetzten Adjektiv „perfekt“: Nein, Perfektion kann es kaum geben, aber man darf durchaus nach ihr streben. Und das wiederum sieht bei jedem anders aus.
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Der Hammer war damals eigentlich noch radikaler – im Sinne von noch uminterpretierender, noch loser assoziierend – gemeint.
Schön aber, wenn du trotz unerwarteter Richtung aus den Antworten etwas ziehen konntest.